Die Entstehung des Studiengangs Energiewirtschaft

erzählt durch den "Gründervater" des Studiengangs, Dr. Hans-Jürgen Zubrod

Ein Vierteljahrhundert Energiewirtschaft an der Hochschule Darmstadt? Rekordverdächtige Jubiläen lassen häufig einige Fragen aufkommen, die im Alltagsgeschäft sonst keine so große Rolle spielen. Ist es wirklich ein Vierteljahrhundert, nicht eventuell weniger oder sogar mehr? Ist mit der Energiewirtschaft der Aufbaustudiengang gemeint oder der grundständige Diplomstudiengang, die aber beide schon der Vergangenheit angehören und dem in Bachelor und Master gestuften Studiensystem gewichen sind? Und liegen die Wurzeln der Energiewirtschaft nicht an der Fachhochschule Darmstadt, die sich jetzt mit der Namensgebung Hochschule Darmstadt präsentiert?

Diese kleine Auswahl an Fragestellungen zeigt schon eines: Energiewirtschafts-Studium ist schon immer Prozess gewesen, gleichermaßen im Hinblick auf innere Entwicklung wie äußere Einbindung. Gewechselt haben Studienaufbau, Voraussetzungen und Abschlüsse, des Weiteren organisatorische Zuständigkeiten. Was ist geblieben?

Nicht immer müssen die Leitideen für neue Studiengänge so explizit zum Ausdruck gebracht werden, wie es für das Studium der Energiewirtschaft der Fall war. Das hängt mit Besonderheiten des Gründungsprozesses zusammen. Es bot sich  die Chance, die Energiewirtschaft in einen „Modellversuch im Hochschulbereich“ einzubringen. Das versprach Vorteile in Form einer hälftigen Mitfinanzierung des Bundes in der Modellversuchsphase, bedeutete andererseits aber erhöhten Dokumentationsaufwand für Beantragung, Zwischen- und Abschlussberichte. Außerdem vergrößerte sich dadurch die Zahl der Akteure, denen gegenüber Überzeugungsarbeit für ein in vielerlei Hinsicht „andersartiges“ Studienangebot zu leisten war.

Da war zunächst der Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften (SuK), auch dieser eine Besonderheit, weil nicht primär entlang von Fachdisziplinen organisiert. Er war vielmehr (auch an anderen hessischen Fachhochschulen) eingerichtet worden, um ein sozial- und kulturwissenschaftliches Begleitstudium für technisch-/naturwissenschaftliche Disziplinen zu gewährleisten und Bezüge zu sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen angestrebter Berufstätigkeit aufzuzeigen, überwiegend in seminaristischen Vermittlungsformen. Ein Projekt „Energiewirtschaft“ wollte da trotz starker interdisziplinärer Ausrichtung nicht notwendig passen, schon weil es sich um einen eigenständigen Studiengang gehandelt hätte, wo doch sonst der Service-Charakter für das SuK-Studienangebot bestimmend war.

Erforderlich war auch die Befürwortung des Rates der Hochschule, und zwar im Hinblick sowohl auf den Einrichtungsbeschluss für den neuen Studiengang als auch die Stellungnahme zu den (vom Fachbereich zu beschließenden) Ordnungen (Studien- und Prüfungsordnung). Schon des längeren hatte es eine Ratskommission „Neue Studienangebote“ gegeben, in der auch das energiewirtschaftliche Projekt (mit deutlichem Wohlwollen) diskutiert worden war. Zu dessen Konkretisierung wurde eine „Expertenkommission Technische Studienanteile“ eingerichtet (mit Vertretern von SuK und vier technisch-/ naturwissenschaftlichen Fachbereichen), um diesen sensiblen Bereich zu strukturieren. Bei allen Erörterungen auf fachbereichsübergreifender Ebene war förderlich, dass eine Finanzierung in Aussicht stand, die bestehende Studiengänge (weitgehend) verschonte.

Die (positive) Willensbildung an der Hochschule (auf allen Ebenen) war notwendige, nicht hinreichende Voraussetzung für den geplanten Studiengang. Als externe Akteure bedurfte es noch der Unterstützung durch das Fachministerium des Landes und die „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung“. Hatte das Ministerium für Wissenschaft und Kunst einerseits Interesse, für das Land Hessen mit einem erfolgversprechenden Projekt in die Förderungs-Auswahl der Bund-Länder-Kommission zu gehen, zeigte es auf der anderen Seite – als „Genehmigungsbehörde“ – nicht so viel Verständnis für die reformorientierten Ansätze in der Prüfungsordnung. Trotz prinzipiell tatkräftiger Unterstützung blieben somit auch sichtbare Bremsspuren zurück (in Form befristet genehmigter Ordnungen). Einfacher verliefen die Interaktionen zur Bund-Länder-Kommission. Der Modellversuchs-Antrag zur „Entwicklung und Verknüpfung von Studien- und Weiterbildungsangeboten im Bereich von Energiewirtschaft und kommunaler Umweltplanung“ bedurfte nur in einigen Punkten „Ergänzende(r) Erläuterungen“, um insbesondere eine Abgrenzung gegenüber anderen energiebezogenen Projekten vorzunehmen.

Gerade bei Jubiläen ist es beliebt, von einer „Stunde Null“ zu sprechen, auf die die Jubiläums-Jahreszahl dann bezogen wird. Das ist im vorliegenden Fall schwer bis unmöglich. Was soll als Bezugspunkt gewählt werden in einem Prozess mit vielen Etappen und einer großen Zahl von Entscheidungsträgern auf unterschiedlichen Ebenen? Da gibt es Grundsatz- und spezielle Beschlüsse, Verabschiedung von Ordnungen, Stellungnahmen zu ihnen sowie ihre Genehmigung und Veröffentlichung, die Finanzierungszusage der Bund-Länder-Kommission, die Aufnahme des Studienbetriebs. Alle Elemente sind wichtig, viele könnten gar als Meilensteine bezeichnet werden. Wenn man radikal von der Binnen- zur Außensicht wechselt, kann man allerdings auch schnörkellos sagen: Ergebnis zählt! Wann wird es sichtbar für den Adressaten, wann kann er Nutzen daraus ziehen? In diesem Sinne hätte man sich auf das Sommersemester 1990 zu beziehen, die erste Möglichkeit zur Studienaufnahme. Aber es gibt weitere Eckpunkte, z. B. den ersten Studienabschluss (Wintersemester 1991/92). Auch aus Außensicht ist damit das Alter der Energiewirtschaft an der Hochschule Darmstadt nicht so ganz eindeutig zu bestimmen. Aber welche Rolle spielt das schon für die eingangs gestellte Frage, was geblieben ist?

Hierfür lohnt, die Leitideen des Energiewirtschafts-Projekts näher zu betrachten. Im Modellversuchsantrag von 1989 hieß es dazu:

„Ausgehend von dem steigenden und komplexer werdenden Planungs- und Beratungsbedarf auf allen Ebenen des Energiesystems sollen akademisch ausgebildete Ingenieure und Naturwissenschaftler durch Vermittlung zusätzlicher Kenntnisse und Fähigkeiten im Rahmen eines dreisemestrigen Aufbaustudiengangs „Energiewirtschaft“ zu Problemlösungen im Bereich der Gewinnung, Verteilung und Verwendung von Energie befähigt werden, die über die technische Funktionalität hinaus zugleich wirtschaftlich vertretbar, ressourcenschonend sowie umwelt- und sozialverträglich sind.“

Die Studienordnung vom gleichen Jahr formulierte als Grundsätze für die Zielerreichung:

  • Zur Verwirklichung der Studienziele ist es erforderlich, fachbezogene Kenntnisse mit dem Wissen über die Grenzen und Schnittstellen ingenieur-, wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen zu verwirklichen.
  • Um interdisziplinäres, offenes und innovatives Denken zu fördern, werden Projekte durchgeführt und die Abschlussarbeiten problemorientiert vergeben.

Können über einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg Ziele und didaktische Konzepte zur Zielerreichung unverändert bleiben? Das muss sehr in Frage gestellt werden, will man einen Studiengang nicht dem Vorwurf der Erstarrung aussetzen. Auch die Energiewirtschaft musste Anpassungen vollziehen, wie allein schon aus der schieren Zahl von Studien- und Prüfungsordnungen ablesbar ist, die teils sich ablösten, teils aber auch zeitweise nebeneinander bestanden. Einige Änderungen seien kurz skizziert:

  • Erweiterung der Zulassungsvoraussetzungen in der Form, dass auch Wirtschaftswissenschaftler zum Studium zugelassen werden, die allerdings zusätzlich und studienbegleitend eine Fächergruppe „Natur- und ingenieurwissenschaftliches Basiswissen“ erfolgreich zu absolvieren hatten. (1992)
  • Erweiterung der Prüfungsleistungen über die Abschlussarbeit hinaus um eine Reihe studienbegleitender Prüfungsleistungen, verbunden mit der Ersetzung des Abschlusszertifikats durch ein Diplom. (1996)
  • Unter Beibehalt der Studien- und Prüfungsordnung organisatorische Umsetzung des Studiengangs in den neu gegründeten Fachbereich Wirtschaft. (1997)
  • Modularisierung des Studienangebots, Einführung eines Leistungspunktesystems und Erhöhung der Regelstudienzeit auf vier Semester. (2001)
  • Ablösung des Aufbaustudiengangs durch einen grundständigen Diplomstudiengang mit 8 Semestern Regelstudienzeit, davon 3 Semester Grundstudium und 5 Semester Hauptstudium mit 3 theoretischen Semestern, dem Berufspraktischen Studiensemester (BPS) und dem Prüfungssemester einschließlich Diplomarbeit. (2002)
  • Mit Einführung gestufter Studiengänge am Fachbereich Wirtschaft Ablösung des Diplomstudiengangs durch einen akkreditierten 6-semestrigen Bachelor-Studiengang mit reduzierten Projektanteilen und dem Abschluss Bachelor of Sc. (2006)
  • Ergänzung des Bachelor-Studiengangs durch einen Master-Studiengang mit Abschluss Master of Science (2015)

Insgesamt wird der Wandel im Energiewirtschaftsstudium nicht verwundern, wenn man ihm den Wandel in der Energiewirtschaft selbst gegenüberstellt. Komplexere Strukturen, verschärfter Wettbewerb, steigende Aufmerksamkeit sowohl für Klimafragen, Entsorgungsproblematik und Störfälle erfordern einen neuen Typus von Energiemanager. Dem Aufbaustudiengang wohnte die Vorstellung inne, durch Zusatzqualifikationen den (Energie-) Ingenieur fit für die Anforderungen einer Branche im Liberalisierungs-Umbruch zu machen. Das kann auch als gelungen betrachtet werden, wenn man die Rückmeldungen der Absolventen – im Rahmen regelmäßiger Absolvententreffs – zugrunde legt. Die Liberalisierung stellte aber erst den Beginn eines dramatischen Wandels in der Energiewirtschaft dar. Energiemarketing, Energiehandel, Abschaltung alter AKW’s nach der Katastrophe von Fukushima, Netzausbau, Energieeffizienz wurden zu beherrschenden Themen. Eine Professionalisierung energiewirtschaftlicher Ausbildung durch ein Vollstudium anstelle eines Zusatzstudiums war unumgänglich. Auch dies waren die Signale aus den Absolvententreffs, ansonsten natürlich der Branche selbst, deren Kompetenzbedarf nicht mehr durch Umschulungen und Weiterbildungen allein gedeckt werden konnte.

Ist denn nichts geblieben? Die organisatorische Zugehörigkeit verändert, jetzt umfangreiches Voll- statt eher kurzem Aufbaustudium, damit andere Zielgruppen und angesichts der Änderungen in der Energiewirtschaftauch inhaltlich modifizierte Studienziele: Das alles lässt umfangreiche Brüche in jeder Hinsicht vermuten. Dass dem nicht wirklich so ist, zeigt ein Blick in die Unterlagen zum Akkreditierungsprozess, der mit dem Übergang zum gestuften Studiensystem verbunden war. So wie einst beim Modellversuchs-Antrag für den Aufbaustudiengang war erforderlich, die Studienziele noch ausführlicher darzustellen als in der Studienordnung üblich, und zwar niedergeschrieben in einem „mission statement“. Es findet sich dort eine treffende Unterscheidung in Oberziele und spezielle Zielsetzungen. Dass letztere überwiegend mit Blick auf die Energiewirtschaft im 21. Jahrhundert formuliert sind, wird nicht überraschen. Die Oberziele tragen dagegen grundsätzlicheren Charakter; es sind:

  • die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die entscheidungsorientiertes energiewirtschaftliches Handeln auf wissenschaftlicher Grundlage und in Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Umwelt ermöglichen;
  • die praxisorientierte Qualifizierung für Fach- und Führungsaufgaben in Unternehmen und Organisationen;
  • die Vermittlung der aktuellen und zukunftsweisenden Erkenntnisse des Fachs;
  • die fachmethodische Qualifizierung und Entwicklung sowie Ausbau sozialer Kompetenz …

Und so kommt auch die Suche nach dem Gebliebenen, der Kontinuität im Wandel, zum Abschluss. Von den Leitideen des Modellversuchs-Antrags zu den Oberzielen im Akkreditierungs-Antrag gibt es eine zeitliche Differenz von fast 20 Jahren, aber keinen inhaltlichen Widerspruch. Wenn der zum Ausdruck kommende Geist des Energiewirtschafts-Studiums erhalten bleibt, kann auch dem nächsten Vierteljahrhundert mit Optimismus entgegen gesehen werden.

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